Das Primärerfahrungs-Argument

13 Dec 2005 - 12:37 | Version 11 |

In der Diskussion um ICT im Kindergarten und der Unterstufe fällt oft das Argument der Primärerfahrung:

Kleine Kinder sollen in diesem Alter Primärerfahrungen machen, alle Sinneskanäle nutzen und nicht vor dem Computer sitzen.

Gegengewicht zur binären Logik notwendig (Peter Gasser)

Weil Bildung mehr ist als virtualitätsbezogene Computerbildunq, brauchen Heranwachsende vorauslaufende natürliche und wirklichkeitsbezogene Gegengewichte zur binären Logik, nämlich Sacherfahrung, Primärerfahrung, originale Begegnung, Langsamkeit sachbezogenen Forschens und Verstehens, gemeinsame und dialogische Erfahrung, Gemeinschaftserlebnisse usw.. um Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden zu lernen.
Peter Gasser: Lehrbuch Didaktik, 2. Auflage 2003, Biblionetz:b02492

Obwohl ich selbstverständlich der Aussage zustimmen kann, dass es alle im Zitat genannten Erfahrungen braucht, bin ich nicht so glücklich mit dieser Betrachtungsweise. Mir scheint das hier aufscheinende Computerbild relativ antiquiert zu sein:
  • Binäre Logik: Ist die binäre Computerlogik bei heutiger ICT-Nutzung tatsächlich noch so präsent? Wer denkt beim Mobiltelefonieren, Arbeitsblättererstellen oder Digitalfotografieren heute noch an Computer oder gar Binärlogik? Längst ist doch die Nutzung in den Vordergrund gerückt, die Funktionsweise des Mediums interessiert höchstens noch, wenn dieses nicht funktioniert.
  • Dialogisches Lernen, Gemeinschaftsargumente: Spätestens mit der Verbreitung des Internets und der Entwicklung von IT zur ICT ist die Möglichkeit des Kommunizierens auch beim ICT-Einsatz offensichtlich. Ob diese genutzt wird, hat meines Erachtens wenig mit dem verwendeten Medium (Buch, Computer) zu tun.
  • Langsamkeit des sachbezogenen Forschens: Mir leuchtet nicht ein, warum dies mit dem Computer nicht möglich sein soll....
-- BeatDoebeli - 08 Dec 2005

Mythos Primärerfahrung

  • Bereits ohne Computer lernen Kinder vieles nicht durch direkte Erfahrung sondern durch Medien (Bücher, Cassetten, Fernsehen usw.)
    • ICT sind somit punkto Primärerfahrung nicht etwas völlig Neues.
    • Es muss genauer betrachtet werden, welche Erfahrungen durch ICT verdrängt werden:
      • Ersetzt ICT z.B. den direkten Kontakt mit der Natur, dann ist dies ein Verlust an Primärerfahrung.
      • Ersetzt ICT aber z.B. ein Naturbuch, dann ist dies kein Verlust an Primärerfahrung.

  • Würde man das Primärerfahrungsargument verabsolutieren, dann dürften in der Schule
    • keine Bücher mehr angeschaut und gelesen werden,
    • keine Filme mehr gezeigt werden,
    • kein Hörspiele und Radiosendungen mehr angehört werden

-- BeatDoebeli - 28 Nov 2005

Kein Entweder - Oder

Ich denke, dass Primärerfahrung - dort wo sie möglich und sinnvoll ist - die Grundlage unseres Lernens sein sollte. Andererseits sollte es nicht zu einem Entweder - Oder kommen. Diese Frage steht für mich im Vordergrund: Wie kann ich Phänomene, Wissensinhalte so darstellen, dass sie das Verstehen fördern (und nicht bloss träges Wissen produzieren) - und da sind verschiedene Zugänge gefragt und notwendig.

-- PaoloTrevisan - 28 Nov 2005

Schützt das Wort Primärerfahrung - denkt einfach mal nach

Das Wort "Primärerfahrung" ist langsam eine leere Phrase geworden, weil es einfach als zu oberflächliches Argument gegen ICT verwendet worden ist. Das Schlagwort "Primärerfahrung" hat durchaus seine Berechtigung und sein Gewicht in dieser Diskussion, doch es darf nicht verschossen werden, so das es zur Flosskel wird. Ich möchte einmal ein paar grundsätzliche Punkte beleuchten: Warum sollen die Kinder so früh mit ICT konfrontiert werden? Sollten wir als Lehrpersonen nicht einen Gegenpol bilden, das heisst wieder mehr mit der Natur leben, sich mehr mit seinen Mitmenschen auseinandersetzen. Unsere Gesellschaft wird immer individueller, es findet eine soziale verarmung statt. Der Mensch fühlt sich einerseits immer losgelöster von der Natur, andererseits versteht er seine eigene technisierte Welt nicht mehr. Warum nutzen wir diese Zeit nicht, um den Kindern Naturverständnis, Menschnlichkeit und Selbsterkenntnis mit auf den Weg zu geben. -- FabianLehnherr - 1 Dez 2005

  • Deine Argumentation ist etwas schwarz-weiss: Auf der einen Seite Naturvertändnis, Menschlichkeit und Selbsterkenntnis und auf der anderen Seite der sozial einsam machende Computer. Weder müssen Computer auf der KGU-Stufe zur sozialen Vereinsamung führen, noch schliessen sich Menschlichkeit, Naturverständnis, Selbsterkenntnis und Computer aus. BeatDoebeli - 2.12.2005

Ihr wollt sie "gesellschaftsfähig" (vor allem wirtschaftsfähig!) machen, doch dies ist der falsche Weg. Eben weil unsere Welt von Technik durchdrungen ist, sollen die Kinder auch das Gegenteil erfahren oder die Funktionsweise. Doch um mit den PC effizient zu arbeiten, ist es in der Unterstufe einfach zu früh. -- FabianLehnherr - 1 Dez 2005

Der Vergleich mit dem Buch finde ich übrigens völlig daneben. Das Buch hat eine andere kulturgeschichtliche Bedeutung als der PC. Ausserdem ist ein Buch fassbar und überschaubar. Im Gegensatz dazu steht der PC, welcher ausser der Hardware nicht greifbar ist. Es ist auch traurig, dass man den PC mit dem Buch vergleichen muss, dass zeigt für mich wie wenig handfest eure Argumente sind und wie ihr nach Rechtfertigungen sucht um etwas zu begründen was für mich zu extrem ist. -- FabianLehnherr - 1 Dez 2005

  • Das Argument der Fassbarkeit hat etwas für sich. Da wäre es interessant, genauer zu überlegen, ob die Nichtfassbarkeit ein Problem für kleine Kinder ist. KGU-Kinder erleben auch sonst Dinge, die nicht so leicht erklärbar sind (Warum höre ich die Grossmutter im Telefon? Wo sind die Männchen im Fernseher versteckt? usw. Wie gehen sie damit um? BeatDoebeli 2.12.05
    • Warum müssen wir dann noch einen Beitrag zur Komplexität der modernen Welt machen und nicht warten, bis andere grundsätzliche Dinge geklärt sind? -- FabianLehnherr - 5 Dez 2005
      • Weil diese Komplexität bereits da ist und nicht von der Schule gemacht wird. Die Kinder wachsen in dieser Welt auf. Nun kann die Schule entweder diese Komplexität negieren und aus dem Schulzimmer verbannen, oder sie kann versuchen, das Umgehen mit der Komplexität bereits auf KGU-Stufe zu lernen. Das wäre für die KGU-Stufe das LebensweltArgument. -- BeatDoebeli - 06 Dec 2005

  • Wir werden erst in ein paar Jahrzehnten sagen können, ob der Vergleich mit dem Buch zu extrem war oder nicht. Ich bin ernsthaft der Meinung, dass die Digitalisierung der Welt einen ähnlich revolutionierenden Einfluss hat wie der Buchdruck. BeatDoebeli 2.12.05
  • Ich bin einverstanden, dass das Buch eine grosse kulturgeschichtliche Bedeutung hat. Kannst Du genauer erläutern, warum das in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt? BeatDoebeli 2.12.05
    • Dinge, die eine kulturgeschichtliche Bedeutung haben, werden immer irgendwie weiter gegeben. Dinge, die schon über eine lange Zeit eine kulturgeschichtliche Bedeutung haben (wie das Buch) haben tiefe Wurzeln in unserer Gesellschaft. Das heisst wiederum, dass das Buch eine Technik ist, über die sich unsere Kultur definiert. Das Buch schliesst das Schreiben und das Lesen ein. Wenn wir Dinge ersetzen wollen, die unsere Kultur definieren, begehen wir einen Rückschritt, weil wir mehr an den technischen Fortschritt glauben.
      Ich könnte mit ICT und unserer Welt einen schreckliches Szenario anstellen: wir gehen nur noch in digitale Museen, wir erkunden den Weiher über das Internet, wir lernen auf der Tastatur schreiben, ohne eine eigene Handschrift zu haben, wir kaufen nur noch über das Netz ein, wir kommunizieren immer mehr über den PC (zwar weltweit, doch den nachbar habe ich nie mehr angesprochen), etc. Ich denke die Gefahr des Buches ist wesentlich geringer, als die zukünftigen Auswirkungen von ICT, auch deshalb ist kein Vergleich möglich. -- FabianLehnherr - 5 Dez 2005
      • Du sprichst von ersetzen, was für mich wieder einem schwarz/weiss-Denken gleichkommt. Zumindest ich habe noch nie davon gesprochen, dass ICT das Buch ersetzen wird oder ersetzen soll. -- BeatDoebeli - 06 Dec 2005
      • Mir leuchtet nicht ein, warum der Vergleich Buch-ICT nicht möglich sein soll. Du schreibst, dass die Gefahr die vom Buch ausgeht, geringer sei als diejenige von ICT. Mit dem Buch hat die Welt immerhin 500 Jahre Erfahrung und es kam zu Bücherverbrennungen und anderen gefährlichen Dingen. -- BeatDoebeli - 06 Dec 2005
^ Du bist mir noch eine Antwort auf mein Szenario schuldig, ohne mit deiner schwarz-weiss Theorie aufzutrumpfen. -- FabianLehnherr - 13 Dec 2005

ICT kann nach meiner Meinung ab der dritten Klasse eingesetzt werden. Welche Bereiche werden eingespart, wenn ICT einzug hält? In der Unterstufe gibt es genügend Dinge, die gelernt werden müssen und zwar grundsätzliche Dinge, dievor allem mit der Gemeinschaft und dem Kind selber zu tun hat. -- FabianLehnherr - 1 Dez 2005

Verhärtet euch nicht auf das Wort "Primärerfahrungen" sonder überlegt einmal wirklich ob es einen Mehrwert gibt in der Unterstufe. -- FabianLehnherr - 1 Dez 2005

Weitere Hinweise und Quellen

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